Dieser Weg… wird ein Holzweg sein

Oh Mann, hätte ich doch bloß die Klappe gehalten.

Weiß doch jeder: Reden ist Schweigen, Silber ist Gold.

Hm. Oder so…

Aber nein, ich muss im letzten Artikel (hier) ja groß herausposaunen:

Nichts, um das ich mich als Musiker aktiv bemüht habe, war von einem direkten Erfolg gekrönt.

 

 

Und ich habe dir eine Geschichte versprochen.

Also habe ich mich hingesetzt und nachgedacht.

Mit Hilfe der dunklen Seite der Macht.

Unterstützt vom inneren Gollum, der einfach nicht widerstehen kann, dir von Zeit zu Zeit deine größten Niederlagen und Enttäuschungen auf´s Butterbrot zu schmieren.

Dinge, die Du vor die Wand gefahren hast.

Die dir vorübergehend den Stecker gezogen haben.

Die du hofftest, zu vergessen.

Unschöne Dinge.

Mit den Jahren kommt da schon was zusammen:

  • Ärgerliches
  • Peinliches
  • Enttäuschendes
  • Besonderes, Dämliches, besonders Dämliches
  • Verzweifeltes
  • Unprofessionelles
  • Ängstlich- bis Panisches
  • „Was-Tu-Ich-Hier-Eigentliches“

Nur: Wer würde das schon preisgeben und vor sich und der Welt die eigene Legende entzaubern?

Was sagst du? Geschichte versprochen ist Geschichte versprochen?

Na ja, schon gut. Eine Frage der Ehre. Natürlich. Ich weiß, ich weiß.

Schätze, heute heißt es für Herrn Giesek

Hosen runter

Dabei ist mir klar:

  • 49% meiner Leser wenden sich ob der Ankündigung körperlicher Entblößung eines 52-Jährigen entsetzt ab
  • 50% starren in amüsanter Erwartung auf meine Hose

Und du?

Gehörst zu dem einen Prozent, das mir direkt in die Augen blickt, hab ich recht?

Hey, das hier ist für dich.

Bei dir sind meine düster-peinlichen Berufsgeheimnisse ja auch gut aufgehoben (muss ja wirklich nicht jeder wissen).

Ich fange am besten vorne an.

Und so geht es heute um den ersten Dolchstoß in mein einst junges, unschuldiges Musikerherz. Ich bitte um Anteilnahme.

Dazu müssen wir allerdings eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit hinlegen… ––– …

[Ganztonleiter auf- oder abwärts bitte, singen oder spielen, wer vor dem Instrument sitzt… Perfekt, danke.]

1982

Ich bin noch keine 20.

Eine Handvoll verblassender zartrosa Rest-Pickel ziert mein ansonsten schon sehr volkerliches Gesicht. Ein letzter Gruß ausfadender Adoleszenz.

Über und neben Gesicht und Pickeln trage ich mit Stolz schulterlange Haare samt Mittelscheitel sowie eine absurd große Brille [hach ja, die 80er halt…].

Als wäre das nicht schlimm genug, schlüpfe ich Morgen für Morgen beharrlich in Cordhosen statt Jeans – letztere empfinde ich als „kratzig“–, sowie von Mama geschneiderte knallbunte Cordhemden mit Stehkragen.

Eine wilde Mischung aus John Lennon, Lehramtsanwärter und Fischkutter-Kapitän auf Magical Mystery Tour.

Aber in meinem Selbstverständnis bin ich etwas ganz Anderes.

Nach jahrelanger, jugendlich-ehrgeiziger bis manisch-freudiger Beschäftigung mit Musik, vor allem:

  • Fan
  • Jemand, der komplett in Klängen, Tönen, Songs versinken und die Welt um sich herum vergessen kann – aktiv und passiv
  • Der Typ, der eine bunte Glühbirne in Omas Stehlampe schraubt und stundenlang bei blauem Licht auf A-Moll (und Omas Klavier) improvisiert, sich vorstellend, er wäre jetzt gerade mindestens mal Keith Emerson [R.I.P.] auf einer Bühne, so groß wie das Hamburger Hafenbecken
  • Songschreiber, wahlweise Lennon oder McCartney (weil zusammen mit meinem Schulfreund Andy), in der besten (und einzigen) Schülerband unserer Schule
  • Klassik- und Jazz-Entdecker auf Klavier und Gitarre
  • Harmonielehre- und Akkord-Nerd vom Dienst
  • Gewinner des Wettbewerbs „Wer entdeckt im Plattenladen das längste Stück auf einer LP?“ (Das Rennen macht ein Klaus Schulze-Doppel-Album mit nur einem Titel – der sich allerdings über alle 4 Plattenseiten erstreckt: Strike!)

…und das Allerbeste: Seit Neuestem bin ich auch noch einer von 2 Pianisten der Landesjugendbigband Bremen.

Zugegeben, Bremen ist ein sehr, sehr kleines, fast winziges Bundesland und wie viel Jazzklavier spielende Landesjugend kann es da schon geben?

Aber egal, ich find´s super, bin auch ein bisschen stolz und habe hier meinen ersten intensiven, aktiven Jazzkontakt unter der Leitung des erfahrenen Bassisten

Harry Schmadtke

Der ist nicht nur Professor an der Musikhochschule und kennt sich offenkundig mit Bigband-Arrangements und -leitung aus.

Er hat sogar – wow! – eine eigene Harmonielehre geschrieben. Und zwar handgeschrieben. Fotokopierte Blätter, spiralgebunden, Schutzumschlag aus hellblauem Karton, Band 1 und Band 2.

Die kaufe ich ihm natürlich sofort ab und verschlinge sie, kaum zu Hause angekommen, in einem Akt ungehemmter Wissens-Einverleibung.

Ich weiß heute noch, dass er ein glühender Verfechter von b10 statt #9 im Dominantsept-Akkordsymbol ist (schreib mir, ich erklär´s dir).

Der Mann blickt also voll durch und verdient sein Geld mit Musik – für mich erlangt er dadurch automatisch Heldenstatus sowie die Doppel-Funktion „Respektsperson / Vorbild“.

Denn ich stehe mittlerweile ein Jahr vor dem Abitur und bin mir neuerdings sicher: Volker, du probierst es beruflich mit Klavier und Musik (Jazz oder so).

Meine Eltern finden das glücklicherweise auch, und so gehe ich also eines Freitag-Nachmittags nach einer Bigband-Probe zu Harry Schmadtke und frage ihn, die Hände in den Taschen meiner Cordhose vergraben und das Standbein ein wenig zu oft wechselnd:

„Hallo Harry, ich wollt mal was fragen, weil ich möchte nach dem Abitur gerne beruflich Musik…, äh, also ich meine erst mal studieren natürlich, aber keine Klassik, sondern irgendwie Jazz oder so und in Bremen geht das ja nicht und jetzt wollte ich fragen, ob du mir da vielleicht helfen kannst und irgendwas kennst oder jemanden weißt, der mir sagen kann, wo so was geht…?…?…?“

Ich bekomme auf meine Stammelei sogar eine Antwort, allerdings eine ganz andere als erwartet.

Seine Worte sind ein waschechter Schock und ich bin mir nicht sicher, ob der gute Harry sich ihrer Wirkung überhaupt bewusst ist.

Im besten Fall will er mich retten. Aber gerade die überwältigende Ehrlichkeit seines Tonfalls macht die Dinge nur noch schlimmer.

Die Zeit steht still und aus seinem Mund purzeln tatsächlich die Worte:

„Ach, Volker, wirklich??? Also bei dir war ich mir jetzt absolut sicher, du machst das mit der Musik nur so zum Spaß nebenbei.“

Ach. Du. Scheiße!

Roter Alarm! Flugzeuge im Bauch, nein, das sind Tarnkappenbomber!

„Näher, mein Gott, zu dir“, und der einsame Kapitän fährt, ein allerletztes Mal salutierend, mitsamt seinem geliebten Schiff ins eisige, nasse Grab.

Da, wo vorher mein Magen war, wächst ein Selbstvertrauen, Zukunft und Materie fressendes schwarzes Loch, an dessen Rändern die Gravitation so stark ist, dass ich mich binnen Sekunden selbst verschlinge (schreib Stephen Hawking, der erklärt´s dir).

Weg bin ich.

Aus. Vorbei. Entlarvt.

So fühlt es sich zumindest an.

Die reale Klappe, die sich unter meinen Füßen auftut, ist dann auch schon egal.

Jedenfalls finde ich mich nach freiem Fall durch emporquellende, beißende Schwefeldämpfe direkt auf dem Lavagrill Luzifers wieder:

  • Volker = Mittelmaß
  • Volker hat nicht genug Leidenschaft, um sie leuchten zu lassen, seine Berufung zu seinem Beruf zu machen und seinen Traum zu leben
  • Volker hat sich zwar während seiner Jugend mit Begeisterung der Musik verschrieben und abgestrampelt, aber weil er so untalentiert ist, merkt man kaum etwas davon
  • Volker fehlt der nötige Biss für eine Musiker-Karriere
  • Volker ist ein musikalischer Mitläufer, aber kein Macher
  • Volker = Talent minus Volker = 0
  • Volker ist ein warmer Furz
  • Pffff…
[Könnte mir mal jemand kurz über den Kopf streicheln? Danke. Geht schon wieder…]

In den kommenden Wochen folgen einige ergebnis-orientierte Debatten mit dem Lord der Finsternis und die Erkenntnis, dass ich die Musik mehr brauche als die Einschätzung Harry Schmadtkes.

Weshalb ich mich zügig vom Lavagrill erhebe, zurück an der Oberfläche das Anmeldeformular der Jazzschool ausfülle und kurzerhand nach München ziehe, um es wenigstens mal mit der Musik zu versuchen…

[Ganztonleiter! Los, komm, mach hinne, Fingersatz is‘ egal jetzt… Schnell zurück, der Artikel ist fast zu Ende und du willst doch nicht in 1982 bleiben: Da kommen jetzt 16 Jahre Kanzler Kohl und Modern Talking…!]

2016

Und da bin ich immer noch, mit ein paar gut verheilten Brandnarben vom Lavagrill, und habe in all den Jahren seit damals vielleicht nie ganz aufgehört, Harry Schmadtke (und damit auch mir) etwas Bestimmtes beweisen zu wollen.

Danke, Harry, du genialer Motivator.


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Volker Giesek

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