Heute ist der 31. Oktober 2020. Heute ist ein schöner Tag.

Ich liege auf der Terrasse meines Vaters, meine Augen sind geschlossen. Es ist Samstag-Nachmittag, die Sonne scheint und hat noch einmal richtig Kraft. Ich habe mir mein rot-schwarzes Karo-Hemd über das Gesicht gelegt.

Auch die allerletzte Chance des Jahres auf einen Sonnenbrand wird ungenutzt verstreichen, das habe ich mir fest vorgenommen. Hier, am südlichen Ortsrand von Ismaning, liegt heute das Paradies. Wer hätte das gedacht? Ich lausche und höre Sommergeräusche. Eine Horde Kinder brüllt sich auf dem Bolzplatz aufgeregt Kommandos zu. Viel anders klingt ein Bundesliga-Spitzenspiel zur Zeit auch nicht, aber ich bin nicht in Stimmung für solche Gedanken. Bei dem schönen Wetter sind viele Leute unterwegs. Von den Spaziergängern und Radlern jenseits der Gartenhecke erreichen mich Konversations-Fragmente. Nach langsamem Fade-in wandern sie einmal durchs Stereo-Panorama, bevor sie auf der anderen Seite wieder verschwinden: „Jetzt fahren wir hier rechts und dann am Acker lang…“, „Was?! Der hat dir das dann persönlich vorbeigebracht? Da hättest du ihm ja gleich noch…“, „Der große heißt Ferdi und der andere Kalli, oder nee, wart mal, andersrum…“, „Ey, komm, Digga, verarsch mich nich, … … Boah, krass … … … Nee, oder? … … … …. Echt jetzt? … … Allllter! …“, ein – hoffentlich – noch sehr junger Mann telefoniert. Alltäglichkeiten, Unverbindliches, Normales, manchmal etwas in Türkisch oder einer anderen Sprache, die ich nicht verstehe. Nur hören, nicht denken, nicht reagieren, was für eine Erholung! Vor lauter Entspannung fühle ich mich augenblicklich zehn genüssliche Kilo schwerer und sinke noch tiefer in meine Gartenliege. Sogar das „Kraah…, Kraah…, Kraah…“ der Krähen klingt bei Kaiserwetter aus Papas Kirschbaum optimistischer als bei Nebel und Nieselregen über feuchten Ackerfurchen. Lebensfreude statt Tod, Verfall und Vergänglichkeit. Hey, Satchmo, es ist soweit: And I think to myself / What a wonderful world. Satchmo – Klitschko – Kitschko… Mein Hirn mit ein paar kreativen Zuckungen und einer lautverschobenen Silbenkette. Kein großer Erfolg. Erfolg sieht heute anders aus.

Vor ein paar Minuten habe ich meinem Vater vom Bett auf den Klostuhl und zurück geholfen. Dazwischen Hand anlegen, Intimes, Feuchttücher, Liebe; alles im Wohnzimmer hinter mir. Er ist alt, tapfer und dankbar. Er schläft wieder.

Ab und zu fährt im Schneckentempo ein Auto die schmale Einbahnstraße zwischen Gärtchen und gegenüberliegendem Acker entlang. Manche Verbrennungsmotoren klingen in diesem Tempo richtig schön. Unaufgeregte Beständigkeit im unteren Drehzahlbereich. Beruhigend und kuschelig. Ein Klang gewordenes Frotteetuch. Bald gleiten wir alle in Elektroautos komplett lautlos dahin. Ich frage mich, wie es eigentlich um den ökologischen Fußabdruck der dafür benötigten Batterien bestellt ist. Mit einiger Mühe schiebe ich beide Gedanken rechts aus dem Bild. Mein Gesicht unter dem Hemd ist inzwischen “warm+“, an der Grenze zu „heiß“. Ich beschließe, was ich fühle noch eine Weile „wohlig“ zu finden. Das habe ich mir verdient.


Wie und wann der Mann da hingekommen ist, weiß niemand. Vielleicht nicht einmal er selbst. Er liegt gute drei Meter entfernt von der Tür, eingefädelt zwischen den Tischbeinen vom Esstisch, rücklings auf dem Teppich, der Krückstock weit weg auf dem Boden unter dem Klavier, wie mit der Wasserwaage ausgerichtet parallel zu den Tasten, die Brille befindet sich fein säuberlich zusammengeklappt auf dem Tisch. Meine Schwester hat unseren Vater mit einer Bettdecke zugedeckt und ein Kissen unter seinen Kopf geschoben. Sie hat ihn vor eineinhalb Stunden entdeckt, ist aber körperlich nicht in der Lage, ihm aufzuhelfen. Er sagt, er sei gestolpert und liege schon seit ein Uhr in der Nacht an dieser Stelle. Seit neun Stunden! Vielleicht hat er auf dem Weg vom Schlafzimmer zur Toilette schlaftrunken die Türen verwechselt, ist desorientiert ins Straucheln geraten, gestürzt und hat sich dann wie ein Regenwurm durch die Stube gewunden, in der Hoffnung, etwas zu finden, an dem er sich hochziehen kann, bevor ihn schließlich die Kräfte verließen und er sich in sein Schicksal gefügt hat. Wie aber passt da die zusammengeklappte Brille ins Bild? Auffällig auch, dass er seine Strickjacke über dem Schlafanzug an hat, die bevorzugte Abendgarderobe für das Fernseh-Stündchen nach dem Abendessen. Vielleicht ist er im Fernsehsessel eingeschlafen und war auf dem Weg ins Bett? Aber auch an dieser Theorie stimmt die zusammengeklappte Brille auf dem Esstisch nicht. Die legt er üblicherweise auf sein Nachtkästchen, wenn er schlafen geht. Merkwürdig, das alles – und es gehört eher in einen True Crime-Podcast als in meinen Donnerstagvormittag. Aber zum Glück ist hier niemand gestorben. Zum Glück ist hier niemand gestorben…


Es wird zunehmend schwierig. In immer kürzeren Abständen wird meine sture Wohligkeits-Behauptung von der Erkenntnis sabotiert, dass es unter meinem Hemd nicht kuschelig warm, sondern heiß wie die Hölle ist und ich eigentlich gar keine Lust mehr auf dieses Setup mit dem Stoff über dem Kopf habe. Ich liege hier ja auch schon eine ganze Weile mit Lichtschutzfaktor „unendlich“, und nachdem die Sonne um diese Jahreszeit ohnehin eher unvermittelt hinter den Horizont plumpst als sich langwierig mit majestätischem Untergehen aufzuhalten, tendiert das Sonnenbrand-Restrisiko gegen Null. Außerdem bekomme ich keine Luft mehr. Ein Totschlag-Argument. Also nehme ich das Hemd vom Haupt und lege es mir kurzerhand auf den Bauch. Kühlwarme Luft tanzt mir über das Gesicht.


Der Anruf meiner Schwester erreicht mich beim Frühstück. Sie hatte mir in den vergangenen zweieinhalb Stunden schon zwei Mal mit wachsender Verzweiflung auf den Anrufbeantworter gesprochen. Auf die Idee, den Notarzt zu rufen, kommt sie nicht. Ich lasse alles liegen und fahre sofort los, vielleicht kann ich meinem Vater ja tatsächlich wieder auf die Beine helfen. Aber welcher Anblick erwartet mich? Wie schlimm ist es oder wird es noch? Oberschenkelhalsbruch? Klinik? OP? Tod? Zum Glück wohnen wir im gleichen Ort, es sind nur fünf Minuten mit dem Auto. Während der Fahrt bin ich erstaunlich klar im Kopf. Mein Familienkrisen-Modus. Schon im letzten Jahr hat er mich mit Wachheit und Seelenruhe ausgestattet, als meine Frau und ich meine Mutter in deren letzten zwei Lebensstunden begleitet und, bis zur erlösenden grünen Nulllinie auf dem Monitor, an ihrem Bett auf der Intensivstation Wache gehalten haben.

Ja, ab und zu schaut er vorbei, der Ernst des Lebens. Er ist kein durch und durch schlechter Kerl. Er lässt uns in die Tiefe wachsen. Er fühlt sich nicht richtig gut an, aber wenn wir es zulassen, gut und richtig.

Die Route zur Wohnung, in der mein Vater und meine Schwester zusammen leben, führt auf dem letzten Teilstück am Ortsrand entlang; links endet die Bebauung, rechts beginnen die Felder. Kurz vor dem Ziel knickt die Straße im rechten Winkel nach links ab. Schon von weitem sehe ich, dass dort etwas nicht stimmt.


Tiefe Atemzüge fluten meine Lunge mit köstlich frischem Sauerstoff. Mehr brauche ich gerade nicht. Ich atme, das ist schon alles. „Glück ist leicht“ hat Roger Cicero mal gesungen. Das Lied rührt mich jedes Mal, und es schießt mir das Wasser in die Augen. Kein Wunder, denn ich tauche. Unter der Oberfläche des Ozeans, auf dem wir mit unseren wackeligen, schlecht gefalteten Papierschiffchen umher dümpeln, bevor sie durchgeweicht untergehen, liegt nichts weniger als Unendlichkeit. Doch wir lassen uns ablenken, von all den unablässig glitzernd aufpoppenden Schaumkronen um uns herum. Bei Flaute nörgeln wir dann gelangweilt, dass nichts voran geht und nirgends mehr Schaumkronen zu sehen sind. Dabei könnten wir uns jetzt endlich störungsfrei auf den tiefen Kern der Sache einlassen. Ich bin dankbar, dass die Begegnung mit ihm für Musiker quasi zum Berufsbild gehört. Kunst ist eine Taucherglocke, in der ein Papierschiffs-Kapitän abtauchen und Dinge aus der Unendlichkeit zu Tage fördern kann. Aber Seemann, sei gewarnt: Allen, die einmal dort waren, wird Schaum an der Oberfläche nicht mehr genügen.


In der Kurve blockieren zwei Polizeiautos und ebenso viele Sanitätsfahrzeuge die Straße. Wahrscheinlich ein Notarzteinsatz in dem mehrgeschossigen Wohnblock an der Ecke. Aber wozu die Polizei? Häusliche Gewalt? Das Auto vor mir wird langsamer. Einer der Polizisten bedeutet dem Fahrer per Handzeichen, umzukehren. Hier ist augenblicklich kein Durchkommen. Aber ich habe es eilig, ich muss meinem Vater helfen! Gibt es vielleicht doch eine Möglichkeit, mir Wendemanöver und Umweg zu ersparen? Eventuell könnte ich ja mit den Polizisten verhandeln, so dass sie mich ein kurzes Stück über den Gehweg fahren lassen? Würde der Platz reichen, um den Wagen vor dem nächsten Laternenpfahl zurück auf die Straße zu lenken? Mein Blick wandert prüfend nach links. Das andere Auto gleitet durchs Bild. Ein älterer Herr sitzt am Steuer. Er hat gewendet und fährt jetzt langsam in entgegengesetzter Richtung an mir vorbei. Als er mich passiert hat, sehe ich es: Auf dem Rasenstück zwischen Gehweg und Wohnblock liegt eine Leiche. Unter dem schwarzen Tuch, mit dem die Einsatzkräfte sie bereits zugedeckt haben, schauen mittig eine Hand mit einem Armband, am mir zugewandten Ende zwei Füße hervor. Die Art der Schuhe lassen auf eine ältere Dame schließen. Die Situation hat etwas Surreales. Aber ich träume nicht: Da drüben liegt eine Tote; dort sind die Notärzte und Polizeibeamten; hier bin ich, auf dem Weg zu meinem gestürzten Vater. Diese Anordnung birgt bei aller Tragik jedoch auch eine Chance, wenn man es pragmatisch angeht, und das tue ich jetzt. Ich parke mein Auto rückwärts an den Ackerrand, steige aus und gehe zu den zwei Sanitätern, die vor dem vorderen Fahrzeug stehen. „Guten Tag, entschuldigen Sie, ein tragischer Anblick, aber Sie scheinen hier fertig zu sein“, höre ich mich sagen und finde die Formulierung angesichts der abgedeckten Leiche in meinem Rücken ein wenig makaber. Dann schildere ich in knappen Worten, weshalb ich unterwegs bin und frage, ob sie Zeit hätten, noch einen Einsatz dran zu hängen und sich meinen Vater anzuschauen. Sie bejahen, dafür seien sie schließlich da. Ich fahre voraus und bin froh, gleich sehr souverän mit professioneller Hilfe im Schlepptau bei meinem Vater und meiner Schwester aufzukreuzen. „Glück im Unglück“ denke ich noch, aber das ist zynisch.

Die Sanitäter knien neben meinem Vater. Sie kümmern sich professionell und zugewandt um den bei jeder kleinsten Bewegung stöhnenden, wimmernden Mann auf dem Boden. Sie testen ihn auf Knochenbrüche, reden mit ihm, messen Blutdruck, injizieren Schmerzmittel. Mein Vater kann sich tatsächlich nur unter größten Schmerzen millimeterweise bewegen. Die Schulter, die Rippen, das Bein, aua, aua, alles ganz schlimm und kaum auszuhalten – auch für mich. Keine Chance, ihn auf einen Stuhl zu hieven. Vor allem: was dann, was wäre damit gewonnen? Er will liegen bleiben. Auch das ist keine wirklich zukunftsfähige Idee. Also Transport in die Notaufnahme, zum Röntgen und zur weiteren Diagnose, „nur um sicher zu gehen“. Er willigt ein. Die Sanitäter rufen den Rettungswagen.


Die Sonne rast. Es geht mit ihr in großem Bogen bergab. Schon ist sie fast hinter der hohen Begrenzungsmauer verschwunden, die den Garten rechts vom Nachbargarten trennt. Ihre Strahlen verlieren an Kraft. Mich fröstelt. Wie schnell das plötzlich geht, von heiß zu kalt. Ich ziehe mir mein Hemd an. So kann ich es noch eine Weile aushalten. Ich bin froh, dass mein Vater seit drei Tagen wieder aus dem Krankenhaus zurück ist. Aber er braucht jetzt 24 Stunden am Tag Betreuung. Wir haben schon geschafft, ein Behelfsbett und einen Klostuhl ins Wohnzimmer zu stellen. In der kommenden Woche sind Herbstferien. Meine Frau und ich werden uns die Tages- und Nachtdienste teilen und abwechselnd bei meinem Vater übernachten. In gut einer Woche müssen wir wieder zur Arbeit, das ist die Deadline, bis dahin muss hier eine 24-Stunden-Pflegekraft eingezogen sein. Wir werden für sie das Schlafzimmer entrümpeln und herrichten. Außerdem brauchen wir WLAN, ein professionelles Pflegebett, einen Gehbock, Pflegestufe 2 und bitte, bitte, bitte einen anderen U.S.-Präsidenten. Zum Glück sind wir nicht allein, sondern eine Familie. Wir haben uns, das ist viel Wert. Auch hat mir in der ersten Nacht Kurt Tucholsky sehr geholfen, habe ich doch mit einem seiner Bücher sage und schreibe zehn Schnaken erlegt. Leben und Tod liegen dicht beieinander. Sieh an, zwei entspannte Stunden in der Oktobersonne und schon traut sich wieder eine Art Humor aus der Deckung. Schwarz und sarkastisch zwar, aber was will man erwarten? Ich möchte aufstehen und nach meinem Vater schauen, er hat sich lange nicht gerührt. Schon auf der Kante der Liege hockend, bereit mich zu erheben, sehe ich vor mir auf dem Boden eine Feuerwanze krabbeln. Sie erkundet emsig die Terrakottafliesen der Terrasse. Ihr Rücken mit der schwarzen Zeichnung leuchtet rot-orange in der letzten Sonne des Tages. Sie lässt die Farben besonders intensiv erscheinen. Ein schönes Tier. Ich beuge mich herunter, um ihr näher zu sein. Sie läuft, wendet, dreht kleine Schleifen, begutachtet diesen und jenen Krümel, ohne je etwas mitzunehmen. Dann geht es ein Stück geradeaus entlang einer der grauen Fugen, die die Quadrate voneinander trennen. An einer (oder keiner?) bestimmten Stelle wechselt sie die Seite und widmet sich auf ähnliche Weise der nächsten Fliese. Was sie wohl sucht in dieser heißen, rotbraunen Einöde? Von wem hat sie ihren Auftrag und wie lautet er? Sammelt sie am Ende einfach nur Informationen? Ich genieße es, seit langer Zeit mal wieder etwas nicht wissen oder schnell herausfinden zu müssen. Dieses Problem darf ungelöst bleiben. Mir entfährt ein wohliger Seufzer aus tiefster Seele und Kehle. Ich stehe auf, mache vorsichtig einen großen Schritt über die Wanze hinweg und beschließe: Wir machen jetzt einfach beide unser Ding. Soll sie sich ruhig weiter um die Sache mit den Fliesen kümmern.

Was mich betrifft, so liegt mein aktuelles Thema dort drinnen im Wohnzimmer im Bett und hat mir vor über 50 Jahren beigebracht, wie man beim Eis essen die letzte Kugel bis ganz unten in die Waffeltütenspitze bläst.

Selbstfindung
Sehr spezielle Zeiten

Volker Giesek

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