Lieber Papa!
So, da haben wir es! Uta und ich sind Vollwaisen. Keine Mama, kein Papa mehr.
Natürlich sind wir traurig.
Aber in aller Seelenruhe auch einverstanden.
Wenn Eltern in so hohem Alter und vor ihren Kindern gehen, ist es gut gelaufen, oder? Uta und ich sind beide um die 60. Mama war 87 und du, Papa, hast jetzt mit 92 Jahren deinen letzten Schnaufer getan – Respekt!
Allein, dass ich beim letzten Schnaufer nicht dabei war, wurmt mich. Statt dessen war ich auf dem Weg zur Jazzschool, na toll.
Vielleicht bin ich gerade in Pasing ganz profan aus der S-Bahn gestiegen.
Vielleicht war ich auch schon beim Yormas, um mir einen Schokoriegel zu kaufen, dringend benötigte Nervennahrung für deinen auf Notstrom laufenden Sohn, der mit der Vorstellung kämpfte, in wenigen Minuten in Raum 10 vor der Musiklehre-Klasse zu stehen, während es dir immer schlechter ging.
Hm, es könnte auch sein, dass ich gerade die Sauerei weggemacht habe, die entstanden war, nachdem ich die Dosenmilch nicht in, sondern neben meinen Coffee-To-Go-Becher gekippt hatte. Kein Zweifel, dein Sohn war komplett neben der Spur.
Sie waren und sind ja auch ein ganz schönes Brett, die gesellschaftlichen und privaten Ereignisse und Zumutungen der letzten Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden.
Oder hast du mein milchiges Missgeschick sogar bereits von oben beobachtet, vielleicht gemeinsam mit Mama? Habe ich euch wenigstens ein ganz klein wenig leid getan, wie ihr mich derart mit irdischer Mühsal beladen seht, während ihr ganz entspannt auf Wolke 7 sitzt und die Beine in den himmlischen Äther baumeln lasst?
So ganz genau werde ich es wohl nie erfahren.
Aber Annette war bei dir, Papa, das ist schön und beruhigend. Kaum hatte ich den Yormas verlassen, kam ihre Textnachricht: „Dein Papa hat es geschafft“. Da habe ich mich vor dem Regen untergestellt, meinen Schokoriegel gegessen und meinen Kaffee getrunken, mich in der Schule abgemeldet und bin mit der nächsten S-Bahn zurück nach Ismaning gefahren. Dann stand ich wieder vor deinem Bett, von wo ich aufgebrochen war.
Da ich ihn also verpasst hatte, wollte ich von Annette wissen, wie das genau war mit deinem letzen Schnaufer. Sie sagt, du hast irgendwann einfach aufgehört zu atmen. Ok, pragmatische, einfache Lösungen waren wir von dir gewohnt. Noch ein kurzer Schauder und alles war friedlich, sagt Annette. Auch, dass du vielleicht extra mit dem Sterben gewartet hast, bis ich weg war. Sie will mich trösten, das ist lieb.
Dennoch wird es mir nachhängen, dass ich ausgerechnet in dem Moment, als Gott den Auslöser gedrückt hat, geblinzelt habe. Schlechtes Timing, und das von deinem Musiker-Sohn, das geht eigentlich gar nicht.
Da warst du besser, geradezu genial. Du bist ´29 geboren und 92 Jahre alt geworden. Wow, um mit dem Zeitpunkt des Todes das erreichte Lebensalter zum Anagramm seines Geburtsjahres zu machen, braucht es wahrscheinlich einen Bauingenieur und Statiker wie dich.
Außerdem war es genau einen Tag vor meinem Geburtstag, dass du den Weg für Erleichterung und Erinnerung frei gemacht hast.
Dein letztes Geburtstagsgeschenk war so gesehen teuer wie kein zweites. Es war das Wertvollste, das ein Mensch besitzt: sein Leben.
Ich danke dir vor Allem für unser gemeinsam verbrachtes.
Nachkommen in die Welt setzen kann jeder Depp. Ein guter Vater sein bedeutet mehr:
Da sein, Richtung geben, Sein-Lassen, Erkennen und Erspüren, Kuscheln und klare Kante zeigen, Verantwortung übernehmen – und ihr danach auch gewachsen sein.
Kommt dann, wie bei dir, noch ein kräftiger Schuss Humor, grandioses Kommunikations-Talent und ein Herz am richtigen Fleck dazu, würde ich sagen: Her mit den Genen!
Was mir davon die Mendelschen Gesetze weitergereicht haben, kann ich nur vermuten oder bestenfalls hoffen. Vielleicht wird mein Sohn es einmal aufschreiben, in einer ähnlichen Situation wie ich jetzt.
Doch das hat Zeit. Viel Zeit, bitte.
Aber zurück zu dir, Papa. Zwei deiner Sprüche haben mir in meinem bisherigen Leben hervorragende Dienste geleistet:
Wer sich für einen Pfannkuchen ausgibt, wird dafür aufgefressen.
und
Wir dürfen nie vergessen, dass wir eine proletarische Unterhose anhaben.
Der zweite könnte glatt aus den Känguru-Chroniken von Marc-Uwe Kling stammen, das macht ihn mir noch sympathischer. So viel Klassenkampf muss sein, da sind sich das Känguru, du und ich einig.
Zu den beiden wunderbar hemdsärmeligen Alltags-Aphorismen hat sich nun also auch noch dein Sterbedatum gesellt, der 8. Dezember 2021, einen Tag vor meinem Geburtstag.
Alle drei werde ich, allein schon aufgrund ihrer Originalität, zeitlebens parat haben, wenn es darauf ankommt, da kannst du sicher sein.
Freundschaft! Und danke für alles!
Dein Volker
Beitragsbild:
© Volker Giesek
Abschiedsbrief:
© Barking Fish Music | Volker Giesek 2021
Thomas Jugl
Jan 1, 2022
Hallo, Volker!
Dir ein ebenso erfülltes neues 2022…übrigens das Jahr des Schlagzeugs…
und das dir das eine Ende Energie und Kraft für viele neue Anfänge geben möge.
Dein Text hat mich sehr angesprochen.
Anders wie du, habe ich/durfte dem Tod meines Vaters beigewohnt/beiwohnen.
Einerseits bin ich sehr dankbar dafür – andererseits ist es etwas, was mich manchmal
auch belastet… – das Spüren von Erlösung eines Leidenden einerseits und die eigene Ohnmacht,
nichts tun zu können.
Zwei Tage später hatte ich ein Konzert…in einem Planetarium…alles dunkel…und die Augen der
Menschen auf den Sternenhimmel gerichtet, während ich weinend getrommelt habe.
Drei Jahre später verstarb meine Mutter und ich war genau in diesem Augenblick – so wie
du – mit ´Wichtigerem` beschäftigt.
Ich weiß ehrlich gar nicht, was sich einfacher, schwerer, richtiger oder falscher anfühlt…
ich hab aber irgendwie den Eindruck gewonnen, dass Menschen in ihrem letzten Endspurt tatsächlich
manchmal erst loslassen können, wenn bestimmte Personen anwesend…oder auch nicht anwesend
sind.
Irgendwie fügen sich manchmal – vielleicht nicht immer – die Dinge und
dienen uns möglicherweise zum Besten.
Das wünsch ich dir auch!
Liebe Grüße aus Fürth/Nürnberg, TomTomTom
Volker Giesek
Jan 2, 2022
Lieber Thomas, danke für deine Anteilnahme und Gedanken.
Du hast Recht, menschliche Ohnmacht ist schwer auszuhalten, sobald im Sterbeprozess die Natur übernimmt. Mittlerweile ist sie aber Erleichterung und Trauer gewichen.
Ein Konzert im Planetarium hätte bei mir jetzt sicherlich eine ähnliche Wirkung. Die Dunkelheit, die Stimmung, die Symbolik – das wirkt ja fast wie vom Schicksal inszeniert!
Übrigens hat sich auch meine Oma (mit 103 Jahren!) ausgerechnet die zehn Minuten zum Sterben ausgesucht, in denen meine Mutter nicht im Zimmer war. Und suchen nicht auch Tiere die Einsamkeit, wenn ihre Zeit gekommen ist? Ok, so langsam glaube ich, es war alles genau so vorgesehen, wie es gekommen ist :).
Danke für deine Unterstützung und alles Gute für das neue Jahr!
Liebe Grüße, Volker
Andy
Jan 1, 2022
Lieber Volker, sehr schön hast du das geschrieben und einen tolles Klavierstück komponiert.
Eben typisch du 🙂
Volker Giesek
Jan 1, 2022
Lieber Andy, es freut mich, dass du den Brief gelesen und die Musik gehört hast. Und was du schreibst natürlich sowieso. Danke für die Blumen – die passen ja auch irgendwie zum Anlass…